Kommissar Simonsberg ermittelt am Weltenrand

Ida Waschinski liebte es, morgens im Bett einen Milchkaffee zu trinken, Zeitungen zu lesen und über die Schleusen zu schauen. Sie beantwortete die ersten Mails, gab Bestellungen durch, plante auf einem Schmierzettel den Tag und erst dann ging sie hinunter, zuerst durch die Hintertür hinaus in den großen Bauerngarten mit Buchsbaum, Fliedersträuchern, Gemüsebeeten und vielen Kräuterbüschen. Jetzt, im frühen Herbst war der Liebstöckelbusch groß und breit, die Sonnenblumen strahlten gelb und rot, der Lavendel duftete und der rote und weiße Mohn tanzte im Wind. Ida war stolz auf ihren Garten und sie liebte diese blaugraue Stunde morgens. Erst dann betrat sie ihre Kneipe. Für sie blieb ihr kleines feines Restaurant eine Kneipe. Ihr Vorbild waren die französischen Brasserien, in denen alles möglich war an Alltagsleben: Da wurden Wettscheine ausgefüllt, Bier und Wein am Tresen getrunken, Menüs verspeist. Gelesen, geredet. Bankangestellte saßen neben LKW-Fahrern und der Markthändlerin. Aber so ging es nicht zu in der Alten Schleuse. Tagsüber kamen einige Bauern, Schiffer und Bauarbeiter auf ein Bier, Weizenkorn wurde immer weniger getrunken; manche Vertreter aßen Bratkartoffeln, Idas Currywurst, den Eintopf des Tages. Oder sie nahmen sich eines der Mettwürstchen, die wie in alten Zeiten aufgereiht im Kamin hingen. Nachmittags schauten Spaziergänger und Radtouristen vorbei. Kaffee, Kakao, Weizenbier, höchstens ein mit Blaubeeren oder Pilzen gefüllter Pfannkuchen oder ein Schinkenschnittchen. Erst abends wurde es an guten Tagen voll mit den Gästen aus der Stadt. Sie wollten fein essen und inzwischen fuhren einige auch Zur Alten Schleuse, um gesehen zu werden, denn es hatte sich herumgesprochen, welch ausgezeichnetes Restaurant Ida und ihr Mann in Düsseldorf geführt und wer dort alles verkehrt hatte. Ida war das Getue dieser Leute egal. Ida wusste, sie lebte in jeder Beziehung, auch in der Liebe, mit einer Mischkalkulation, denn der Umsatz im Sommer, der kleine Biergarten, die Terrasse, mussten die Kosten für Januar und Februar decken. Und auch zu Wochenbeginn war sie oft genug noch ihr einziger Gast. Dann auch ohne ihren Liebsten Henning Simonsberg, dem Kommissar mit Sonderaufträgen, der auf den Kanälen zwischen Rotterdam, Münster und Papenburg feststeckte. Immer auf der Suche nach illegalem Handel und Transport. Seit Neuestem nach Designerdrogen und gefälschten Medikamenten.
In der Alten Schleuse war ein Kommen und Gehen, ein Durcheinander. Zwei Tage musste Ida Fragen beantworten, fand auch beim Kochen keine Ruhe. Mit Henning Simonsberg durfte Ida gar nicht erst sprechen. Er durfte sie nicht umarmen und küssen. Er wurde sofort nach oben in der Polizeihierarchie durchgereicht und durchgecheckt: Ja, er war ein deutscher Staatsangehöriger, ein Erster Kriminalhauptkommissar, einer der im Revier rund um den Hamburger Michel und im dortigen neuen Containerhafen seine Erfahrungen gesammelt hatte, seit Kurzem ein meist verdeckt arbeitender Ermittler der SoKo Europort, stationiert in Rotterdam, woraufhin einer der Herren in Gelächter ausbrach: „Wir haben einen der ‚Zitrusfrüchte vom Niederrhein’ erwischt.“ Simonsberg wäre beinahe die Hand ausgerutscht, um wenigsten auf den Tisch zu hauen. Stattdessen sagte er nur: „Wir kennen den Spitznamen und mögen ihn. Immerhin vermasseln wir ja kleinen und großen Verbrechern aus allen Kreisen und Ländern ihre Geschäfte. Oft genug auch den Aktenkofferträgern.“ Simonsberg knallte die Tür zu, er mochte eine bestimmte Sorte Menschen nicht, die, die immer nur an ihr eigenes Fortkommen, an die Vorschriften dachten und andere herabsetzten, wo und wie es nur ging.

Kommissar Simonsberg wurde in Friedrichskoog, während eines Stipendiums, erfunden, an der Nordsee, mit Blick auf die Deiche und die Elbmündung. Ein Hamburger Kriminalhauptkommissar, der sich nach dem Tod seiner Frau an den Weltenrand ins Dithmarscher Land flüchtet, der wie im Eis erfroren lebt, aber hartnäckig alle düsteren Fälle und Strandräubereien aufklärt. Der noch einmal den Herzensmut fasst und in Rotterdam neu beginnt und quer durch Europa und durch die alten und neuen Zeiten ermittelt.

In der Edition Bärenklau eXclusiv erschien Kommissar Simonsberg ermittelt am Rand der Welt mit fünf  Geschichten als eBook und auch als Taschenbuch.

 https://baerenklauexklusiv.de/produkt/j-monika-walther-kommissar-simonsberg-ermittelt-am-rand-der-welt-fuenf-faelle-fuer-den-kommissar-nord-krimis-ebook/?

Ida Waschinsky blieb nach dem Aufräumen noch lange in ihrem Zimmer hinter der Küche sitzen, trank abwechselnd Wasser und Vodka, rieb sich die Wange. Sie war wund von Simonsbergs Stoppeln. Er hatte sie lange gehalten, geküsst, liebend, aber auch wie ein Verzweifelter.
„Ich habe immer gedacht, ich habe einen guten Beruf. Immer. Aber während die Glocken läuten und es still regnet, die Menschen in den Kirchen beten, passiert nicht nur ein Totschlag aus Verzweiflung, ein Raub aus Not, ein geplanter Mord aus Eifersucht. Nein, alles geschieht massenhaft, aus Geldgier oder aus Bösartigkeit und Lust am Morden, wie es dieser Arno Weissner mit seinen Kameraden getan und fotografiert hat.“
Während Simonsberg nachsann, nahm Ida eine Portion Blätterteig aus dem Kühlschrank, schnitt Äpfel, erhitzte Zucker und Wasser, goss Sahne dazu, gab Butter und Salz hinein, rührte die Sauce glatt. Ida beschäftigte sich mit einer gestürzten Apfeltarte mit Salzkaramellsauce. Ida sagte: „Die Menschen können beides: gut und böse sein. Manche sind herzensgut, manche grauenhaft schlecht. Die Schlechten müssen wissen, dass sie nicht davonkommen. Ich weiß, auch der Internationale Gerichtshof in Den Haag hindert keinen Diktator anderen Menschen das Herz aus den Rippen zu schneiden, aber irgendwann sitzt er in einer Gefängniszelle und nicht in seinem goldenen Palast. Irgendwann. Die Hoffnung habe ich. Dazu braucht es Menschen wie dich und Sophie.“ Simonsberg sah sie lange an, sagte: „Ich liebe dich.“ Dann war er schlafen gegangen. Und sie saß da, rieb sich ihr Gesicht und dachte kreuz und quer in der Welt herum, und wie leid ihr der Tod von Ines Baader tat, dann sagte sie in die Dunkelheit hinein: „Ich muss auf Simonsberg und mich aufpassen.“ Sie spürte nach den ängstlichen Tagen keine Furcht mehr. Sie sagte allein für sich: „Damit es mehr Geliebte geben kann, müssen mehr Menschen lieben.“

Der Band Kommissar Simonsberg ermittelt am Weltenrand enthält fünf Fälle:
Die Frau ohne Füße
Das Glück der Strandräuberin
Die roten Clowns
Die Toten leben besser
Das schöne Dorf

Die Seele schlägt sich durch: Erinnern, schreiben, reden

Bei Lesungen und auch sonst im Leben werden Schriftstellerinnen und Autoren gefragt: Und woher kommen Ihnen all diese Ideen. Anfangs wusste ich so schnell keine Antwort, denn für mich ist jede Frau, jeder Mensch voller Geschichte und Geschichten, jedes Ding und jedes Wesen, dazu kommen die Landschaften, die Farben, alle Gedanken und Erkenntnisse, alle Erfindungen und immer wieder die Geschichte des Großen und Ganzen, die Kausalität, die Welt, die schwarzen Löcher und die grünen Polarsterne, das Eis und die Gletscher, die Referenzrahmen der Gesellschaften, die Kriege, die Fluchten, das Ankommen, Bleiben, das Lieben. Der Duft und die Farben. Kein Leben reicht, um nur die Menge der Ideen zu begreifen, die Vielfalt der Lieben. Der Lebensvariationen. Und zu all dem kommt noch das eigene Leben, die  eigene Sicht, der eigene Blick, das Lieben und Fühlen. Den Ausschnitt des Himmels und der Erde, den ich sehe und begreife, wie ich fühle, die Geschichte meiner Familie und die Geschichten, die erzählt werden, die ich höre. Die eigene Geschichte in allen Variationen. Mein Spiegelbild, die Bilder der anderen. Ich. Kann ich mich vergessen oder muss ich irgendwann von mir erzählen? Oder erzähle ich dauernd von mir und verstecke mich zwischen den Kulissen, stelle mich an den Rand und schaue zu?Als ich das kleine rotlockige Mädchen am Schwäbischen Meer war, begann in einem der Winter, der See langsam zu zufrieren. Die Schifffahrt war eingestellt, vom Ufer aus konnten wir Kinder lange über das Eis laufen, dann gab es weit draußen erste Spalten, riesige Eisschollen; wir drei Mädchen hüpften und sprangen weiter, immer weiter. Langsam fiel die Dämmerung aus dem Himmel: wir standen auf einer sehr großen Eisscholle. Die trieb  mit der Strömung hinaus auf die See. Immer weiter. Emily, Maria und ich lachten vor Glück. Noch waren wir von anderen Eisschollen umgeben, aber wir konnten nicht mehr so weit springen, um die Scholle zu wechseln.
Am Ufer liefen die Erwachsenen winkend hin und her, wir hörten Rufe, wir winkten auch und schrien. Und trieben mit der Scholle weiter. Immer weiter. Drei Männer machten sich mit langen Stangen auf den Weg. Sie rannten. Die Stangen hatten Flößerhaken. Die Männer zogen Eisschollen heran, sprangen von Platte zu Platte bis sie auf einer Scholle standen, zehn Meter von uns entfernt. Mit allen Kräften zogen sie andere Schollen heran, stießen sie in unsere Richtung. Einer der Männer balancierte bis einen Meter vor uns Mädchen: gib mir deine Hände. Er streckte sich und zog die kleine Emily mit einem Schwung zu sich, reichte sie nach hinten weiter, dann kam Maria, dann ich. Wir waren müde. Die Männer trugen uns. Wir schliefen in ihren Armen ein und waren verwundert, dass am Ufer so viele aufgeregte Erwachsene herumliefen. Die Erwachsenen schrien vor Angst. Ihr wärt alle drei ertrunken da draußen. Am liebsten hätten sie uns geschlagen, aber wir waren müde und froren. Und Emily weinte.
Diese Geschichte erzähle ich hier das erste Mal, obwohl die Bilder immer gegenwärtig waren. Denn das Glücksgefühl, während wir auf der letzten Scholle dahin schaukelten, war groß und der Schreck über die brüllenden Erwachsenen auch. Andere Kinder haben Ähnliches oder Wichtigeres erlebt, darum geht es nicht.
Nicht nur diese Geschichte erzählte ich nicht, als ich mit achtzehn zu schreiben begann: Gedichte, kleine Geschichten, Filmkritiken, dann wissenschaftliche Artikel, erste Essays, Kolumnen, über Hörspiele, Filme, viele Geschichten. Noch mehr Erzählungen. Nicht über die Eisscholle, nicht über die Nachkriegswinter, nicht über den Verlust der Heimat in Leipzig, nicht über die völlig zerstörte Familie. Nicht über die Trümmer, die Kälte. Nicht über die Kindheit, die Verlorenheit.
Es gibt Autoren, Schriftstellerinnen, die erleben jetzt etwas und schon schreiben sie darüber: dass sie auf dem Tisch tanzten, liebten, küssten, da oder dort waren. Sie schreiben in der Momentaufnahme. Ich war gegen Ende der Francodiktatur im spanischen Widerstand. Später flüchtete ich nach Portugal. Ich habe erst 25 Jahre später angefangen darüber zu schreiben, ausgelöst durch eine Fotografie der Berliner Fotografin Barbara Dietl. Sie schickte mir jeden Monat ein Bild und ich schrieb dazu Erzählungen. Auf einem Bild lag eine Puppe auf einem alten Tisch. Ja, ich hatte in Spanien den Tod mir sehr, sehr naher Menschen erlebt. Nun schrieb ich ‚Das Fest von Lissabon‘. Aber ich musste noch viel älter werden, um endlich in den ‚Fluchtlinien‘ meiner jüdischen Familiengeschichte so nahe zu kommen, wie mein Wissen und die Seele es zustande brachten. Und so war es immer: ich schrieb mich annähernd vom Rande her. Und wenn ich jetzt an alles Erlebte denke, dann habe ich noch gar nicht angefangen zu erzählen, wie es ist, auf der Welt zu sein und zu begreifen, was alles geschieht, was die Menschen treiben und lassen, wie die Schneeflocken fallen, die Amseln in meine Schreibstube schauen, die Blätter wirbeln, ein Kuss geküsst wird, der mir gilt. Und doch habe ich von allem erzählt, den Anfang, den Versuch beschrieben zu leben. Ohne den Roman ‚Fluchtlinien – Wie die Welt sich in Innen und Außen teilte‘ hätte ich nicht anfangen können, nein, hätte ich nicht zulassen können, mich an immer mehr zu erinnern, davon jetzt zu schreiben und auch zu begreifen, wie wichtig es ist, davon zu erzählen.
Hier die ganze Geschichte über die Weihnachten in der Nachkriegszeit am Bodensee:

Ein Hund und drei Kinder im Schnee –

Meine Mutter und ich flüchteten aus der DDR 1952, mit zwei Rucksäcken, einer Handtasche und einem großen Holzkoffer. Bei Nacht und Schnee in die Tschechoslowakei. Mit Zügen, ohne Fahrkarten und Papiere. Ohne Zuzugsgenehmigungen für irgendeine der Zonen. Weiter nach Bayern ins Lager Moschendorf. Bis Kriegsende ein KZ Meine Mutter hielt die Menschen, den Dreck, die Enge nicht aus. „Keine Lager, keinen Schmutz mehr“, sagte meine Mutter. Sie war einige Monate in Ravensbrück gefangen gewesen. Wir flüchteten weiter bis an den Bodensee. Ein Buchhändler floh mit uns. Er hatte in Leipzig seine Lehre als Buchhändler absolviert. Er floh nach Hause. Zur Seebuchhandlung seines Vaters. Friedrichshafen. Blick auf den Säntis. Bei klarem Wetter.
Als ich den Berg, den Säntis mit seiner weißen Mütze, das erste Mal sah, wusste ich seinen Namen nicht und auch nicht, dass am anderen Ufer die zugesperrte Schweiz lag und dass es dort Dinge gab, die ich noch nie im Leben zuvor gesehen, geschmeckt und gerochen hatte: Schokolade, Orangen, Bananen, Milch, Kakao und Marzipankuchen. Nugat. Schoggi. Ich wusste auch nicht, dass es hinter diesen weißen Bergen noch sehr viel mehr Welt gab.
Was hatten wir aus Leipzig mitgebracht? Was war in dem Holzkoffer? Eine Damasttischdecke, Silberbestecke, Papiere zum Besitz des Hauses in Leipzig. Kleidung. Großvaters Säbel. Großvaters Sattlerwerkzeuge. Großvaters Taschenuhr und sein Seidenschal. Abtrockentücher aus Großmutters Bestand, bestickt und noch unbenutzt. Einige Fotoalben. Eine Pelzstola. Eine Lederetui mit einer silbernen Schere und einem silbernen Fingerhut. Ein merkwürdiges Sammelsurium.
Als Kind fragte ich die Verwandten oft, was war in deinem Koffer? Die nach England geflüchteten Blumenthals landeten ohne Gepäck in Liverpool, ihnen waren nur die Rucksäcke und zwei Aktentaschen geblieben. Die meisten gingen unauffällig mit zweifach angezogener Kleidung, Handtaschen und Rucksäcken. Niemand wollte erkennbar über die deutschen Grenzen, nur Verwandte, Freunde in der Nähe besuchen. Nur ein Ausflug. Die Zugfahrten waren sorgfältig bedacht und verliefen selten wie geplant. Da standen Gestapomänner auf dem Bahnsteig, da durchsuchte die SS einen Zug. Oder andere Reisende wurden abgeführt. Lieber noch einmal im Kreis fahren. Und auch wer die Genehmigung für eine Ausreise hatte, verhielt sich unauffällig. Ein kleiner Koffer. Besitz und Geld musste mit Hilfe anderer gerettet oder als verloren ausgebucht werden in der Lebensbilanz. Millionen Mal musste die Existenz, alle Gefühle, Wissen und Können, alles Leben ausgebucht werden. Keinen Hut mehr zum Ziehen, Kein Lächeln. Kein Guten Tag der Nachbarn mehr. Keine Luft mehr zum Atmen. Meine Mutter und ich kamen über alle Zonengrenzen bis an den Bodensee und fanden einen Unterschlupf in der Drachenstation, direkt an der zerstörten Ufermauer gelegen. Ein neuer Lebensroman. Der Sinn war zu leben. Nach dem Überleben. In der Fremde zu leben.
Vor der ehemaligen Wetterstation bogen sich Bahngleise in die Luft, ein zerbombter Kran hing quer ins Wasser. Wir schliefen auf Strohsäcken, hatten nichts zu essen, waren Fremde. Mit den Monaten kamen immer mehr Flüchtlinge aus der DDR, Geflüchtete aus den baltischen Ländern, aus Schlesien und Ostpreußen waren schon länger da. Die Einheimischen waren nicht begeistert von all den Fremden, die das Schwäbisch nicht verstanden und keine Ahnung hatten was Geselchtes und Gsälz war. Die meisten Schwaben mochten keine Flüchtlinge, gleich woher sie kamen. Alles ein Pack. Hungerleider. Und dieses Pack konnte nicht nur kein Schwäbisch, sondern war auch nicht katholisch. Protestanten, Alt-Lutheraner,  . Und dann waren da noch die französischen Soldaten und ihre Familien.
Das erste Weihnachten am See, in der ausgebombten Stadt Friedrichshafen, fand in der Schiffswerft neben der Drachenstation statt. Hafenarbeiter und Matrosen hatten einen Tannenbaum geschlagen, Kerzen gegossen, Sterne waren gebastelt worden. Der Mann, dem die großen Kieshaufen gehörte, brachte eine Krippe und stellte sie unter den Baum. Die Kinder, die Blockflöten hatten, mussten Weihnachtslieder üben. Ein Matrose verkleidete sich als Nikolaus, einer als Knecht Ruprecht. Der Schnee lag hoch und es war sehr kalt. Die kleinen Bolleröfen knatterten laut. Auf jedem stand eine Blechkanne mit Tee, Kaffee und Wein. Als es dunkel wurde, kamen immer mehr Menschen in die Werft, auch die drei Männer, die neben der Drachenstation in einer Baracke lebten und immer noch ihre gestreiften Lagerjacken trugen. Ein aus Afrika heimgekehrter Missionspfarrer las die Weihnachtsgeschichte, sprach ein Gebet und einen Segen. Alle sangen, die Kinder piepsten auf ihren Flöten. Dann verteilten die Einheimischen an die Flüchtlinge Brezeln und wir Kinder bekamen alle ein Weckle und einen Schübling. Zum Schluss gab es noch Geschenke, alle hatten sich eine Kleinigkeit überlegt: Die drei Männer hatten Walnüsse gesammelt und aus Kastanien kleine Figuren gebastelt, die Matrosen aus der Schweiz einen Block Schokolade mitgebracht und in kleine Stücke geschnitten. Meine Mutter verschenkte zwei Spitzenuntersetzer, und ich hatte vier Kartoffeln von einem Lokomotivführer, der seinen Garten hinter der Drachenstation hatte, erbettelt und jede in Papier gewickelt. Dann tobten wir Kinder durch die Werft und die Erwachsenen tranken Glühwein oder Tee und Kaffee mit einem Schuss Rum und redeten. Woher sie kamen, wo sie Unterschlupf gefunden hatten, wie es weitergehen sollte. Nicht alle wollten am Schwäbischen Meer bleiben. Manche wollten in die Schweiz oder in eine andere Zone, in ein anderes Bundesland zu Verwandten.
Friedrichshafen war eine sehr zerbombte Stadt. Die vier großen Rüstungsbetriebe Luftschiffbau Zeppelin, Maybach Motorenbau, die Zahnradfabrik und die Dornierwerke waren Ziel der Angriffe gewesen. Vierzehntausend ausländische Zwangsarbeiter und über tausend KZ-Häftlinge schufteten in diesen Werken. Bis April 1945 errichteten Häftlinge einen unterirdischen Stollen bei Überlingen, den Goldbacher Stollen, um die Rüstungsindustrie aus Friedrichshafen zu verlagern. Elf Luftangriffe gab es zwischen 1943 und Februar 1945. Nur der Mut des Bürgermeisters und vieler Einwohner verhinderte, dass die Stadt bis zum letzten Haus verteidigt wurde. Zum Kriegsende lebten nur noch siebendtausendsechshundertfünfzig Menschen in der Stadt. Bei Kriegsbeginn waren es über fünfundzwanzigtausend gewesen. Die drei Männer aus der Baracke neben der Drachenstation hatten als Häftlinge geschuftet, Ukrainer. Nach Hause wollten sie auf keinen Fall, nicht in die Hände der Russen fallen. Das hätte ihren Tod bedeutet.
Nicht ganz zerstört worden, war die wunderschöne Schlosskirche am anderen Ende der Uferpromenade. Ihre Zwiebeltürme waren immer in der Ferne zu sehen. Der Südturm war abgebrannt und der Dachstuhl schwer beschädigt. Mit Schweizer Hilfe wurde ein Notdach errichtet.
Die Schlosskirche war eine wunderschöne evangelische Barockkirche und so trafen sich am nächsten Weihnachten alle Geflüchteten dort wieder. Die Kinder mit ihren Flöten, ein kleiner Chor, der Pfarrer, die Fremden, denn die waren protestantisch, die Einheimischen katholisch. Von der Eriskirche in der Stadtmitte stand nur noch der Turm.
Als es am Heiligen Abend dunkel wurde, blieben die Katholiken in der Stadt, die Fremden bildeten zusammen mit den französischen Soldaten und ihren Familien einen Zug entlang der Uferpromenade. Immer weiter und vorbei an einem Hafen für Segelboote und noch weiter bis zur Schlossstraße. Entlang der Mauer, die die Kirche mit ihren vielen Eingängen umgab, zum Haupttor. Der Schnee lag hoch. Eisenbahner hatten Laternen mitgenommen und so war die Menschenkette am See von der Stadt aus zu sehen. Die Alpen, der Säntis, der See und davor der Lichterzug zur Schlosskirche. Wir Kinder rannten vom Schlosssteg zum Schlosshorn und weiter zu dem Pavillon Mon Plaisir und wieder zurück zu den Erwachsenen, die sich in der eiskalten Kirche um den Altar und den Tannenbaum und die Krippe drängten. Wir Kinder waren dick eingepackt und saßen unter dem Tannenbaum am Altar. Der Pfarrer erzählte den Fremden von der afrikanischen Fremde. Viel gesungen wurde in allen möglichen Sprachen. Die Weihnachtsbotschaft, die Flötentöne piepsten, der Segen und alle sangen inbrünstig Oh du Fröhliche. Dann durfte jedes Kind sich ein Päckchen unter dem Baum holen. Ein Apfel, eine Orange, ein Gebäckstück, ein bunter Schokoladenkringel. Alle umarmten einander, schüttelten Hände, wünschten sich Frohe Weihnachten, einige sprachen Polnisch, Lettisch, Tschechisch oder Russisch. Gott segne euch, sagte der Pfarrer noch und gab auch jedem die Hand.
Nein, zurückgeholt werden konnte die verlorene Heimat nicht, nicht die Wörter  über das Elend, aber die Schlesier schenkten den Juden eine selbst gemachte Weißwurst. Eine baltische Familie musizierte. Wir lernten singen und neue Wörter. Die Franzosen verteilten warme Maronen und Marmelade. Der Pfarrer verschenkte Äpfel und Nüsse. Und es fanden sich immer mehr Worte. Gesten. Leben. Hilfe.
Dann wurden die Laternen wieder angezündet und der Zug wanderte an den zerbombten Ufermauern zurück in die Stadt. Ein paar Jahre lang fanden die Fremden an Heiligabend sich in diesem Gang zur Schlosskirche zusammen. Der Baum wurde prächtiger. Zu den Flöten kamen Geigen. Der Chor wurde größer und übte jeden Monat. Der Pfarrer wurde ordentlicher Gemeindepfarrer. Die Kirche wurde repariert und restauriert. Und die Flüchtlinge hatten sich auf verschiedene Weise in das Leben in eingefunden. Auch wir Kinder hatten uns zu neuen kleinen Rudeln sortiert.
Meine Mutter und ich wohnten inzwischen in der Eckenerstraße, neben dem Stellwerk und den Trajektgleisen. Auf dem See fuhren wieder Fähren in die Schweiz und Schiffe nach Lindau und Konstanz, Meersburg und Bregenz. Wir Kinder aus der Nachbarschaft tobten gemeinsam durch die Ruinen. Im Dezember 1953 lag der Schnee meterhoch. Niemand kam mit dem Schneeräumen hinterher. Die Berge wurden immer höher. Die wenigen Autos fuhren im Schritttempo. An Heiligabend fielen die Flocken immer dichter und schneller. Wir Kinder liefen durch die Stadt, immer weiter, bis zum Schlosssteg am Ende der langen Uferpromenade. Wir waren aufgeregt. Der Schnee, Weihnachten, vor dem Gang zur Kirche hatte Frau Beck ihren Kindern, Regina und Heinz, und mir Kakao und einen Wecken mit Wurst versprochen. Wir schrien und warfen mit Schneebällen, schmissen uns in einen Schneehaufen, gruben uns ein, jubelten: Die finden uns nie. Da saßen wir und waren glücklich, mit hochroten Köpfen, warm eingemummelt. Wir teilten einen Keks, den Regina vom Backblech ihrer Mutter gemopst hatte. Wir wurden stiller und müde, bald schauten nur noch unsere bunten Mützen aus dem Schneeberg. Die Dunkelheit ließ uns unsichtbar werden. Wir schliefen ein, wir waren verschwunden. Und die ganze Stadt suchte nach uns. Die Gottesdienste wurden verschoben. Polizisten, Feuerwehr und französische Soldaten suchten mit Laternen und langen Stöcken die Promenade und alle Straßen zur Promenade ab. Wäre nicht die Küsterin gewesen, die den Ofen in der Kirche heizte und durch den aufgeregten Pfarrer von der Suche erfuhr, die in immer größeren Kreisen zusammen mit ihrem Hund um die Schlosskirche nach uns suchte. Vom Badehaus, entlang der Wege bis zum Schlosshorn und Schlosssteg, dort stieß sie auf zwei französische Soldaten, die sich durch die riesigen Schneehaufen stocherten. Aber es war der Hund, der uns fand, bellte, kratzte, jaulte. Wir wurden halb erfroren wach. Die Soldaten zogen uns aus dem Schnee und trugen uns in die Kirche, dann liefen sie in die Stadt.
Wir saßen ins Decken gehüllt neben dem Ofen, tranken heißes Wasser, aßen Kekse und wussten nicht, wie uns geschah. Nach und nach kamen Menschen aus der Stadt zum Weihnachtsgottesdienst. Frau Beck setzte sich zu ihren Kindern und hielt sie fest in ihren Armen, obwohl Heinz schon zehn Jahre alt war. Für die Gemeinde waren wir das Weihnachtswunder. So laut und voller Freude wurde nie wieder O du Fröhliche gesungen.
All ich älter war, sang ich im Kirchenchor, saß gerne bei allen Gottesdiensten auf der Empore, aber unvergessen diese ersten Weihnachten am Bodensee, wenn wir zur Kirche liefen, sangen und die Erwachsenen miteinander redeten. Endlich gab es wieder Worte. Auch wenn die Sätze sich meist entlang der Fluchten und der verlorenen Heimat hangelten.
Wie schrieb Hilde Domin:
„Das eigene Wort,
wer holt es zurück,
das lebendige,
eben noch ungesprochene Wort?“

© Jay Monika Walther

 

 

Fotografien als Trennung

Alte Bilder zeigen, wie Landschaften früher aussahen, wie Menschen sich kleideten. Wie Häuser und Wohnungen eingerichtet waren. Wie Städte und Dörfer sich veränderten. Alte Bilder trennen uns von Menschen und Orten, die wir zu kennen glauben. Auf den Fotografien sind die Großeltern, die Tanten fremd. Ihre Kleidung, ihre Blicke und Gesten. Die eingenommen Haltungen erzählen von unbekannten Geschichten und Leben. Auch die eigenen Eltern sind nicht zu erkennen auf den ersten Blick.
Häuser, Menschen, ja selbst die Landschaften sind vereinnahmt von einer Geschichte der Moden, des Geschmacks, dem Stand der Landwirtschaft und Industrialisierung. Vom Stand eines Fortschritts, bei dem es um immer schöner, größer und mehr geht. Um Renditen. Mehrwert und Gewinne. Oder die Bilder und Gesichter sind geprägt von Krieg, Hunger und Fluchten. Von innerer Not. Oder: von der Erschöpfung der Moderne, von der seelischen und physischen Ausbeutung. Von sinnlosem Leben in Luxusjachten.
Geschichte nimmt Gestalt an, wenn man sie betrachtet. Und um sie zu betrachten und zu erfassen, muss man von ihr ausgeschlossen sein, schreibt Roland Barthes. Die Sache mit den Zeitzeugen sieht er kritisch. Sie können einen Aspekt, einen Eindruck, ihre Wahrnehmung beschreiben. Alle Berichte von Zeitzeuginnen, von Frauen, die erinnern oder Männern, die in einem Krieg vereinnahmt waren, ergeben noch nicht „die Geschichte“. Einen wahren Ablauf oder eine Chronik der Ereignisse.
Wir stecken immer mittendrin: Ein iranischer General wird durch den Befehl des amerikanischen Präsidenten getötet. Ermordet. Danach feuert der Iran Raketen in den Irak. Auf militärische Stützpunkte. Und auf ein Flugzeug mit hundertsechsundsiebzig Passagieren. All das wird berichtet, als wüsste irgendwer, was da vorgeht. In den Köpfen und auf Erden. Wer will was? Erdogan schickt Soldaten nach Libyen, ergreift Partei. Putin unterstützt den angreifenden Kriegsgeneral. Die beiden Herren, im Irak Partner, sind nun in Libyen Gegner. Auch davon wird stündlich alles berichtet, als wüsste irgendwer irgendetwas. Das war 2020. Wir wissen immer noch nicht genau, warum was damals geschah. So wenig wie wir heute wissen, wer mit wem über unsere Köpfe hinweg, was erreichen will. Oder warum Putin jetzt eine neue großrussische Diktatur um jeden Preis, um den Preis unendlich vieler Toter, errichten möchte. Er hätte sein riesiges Land in die Moderne führen können, aber er will der faschistische Herrscher über alle Slawen sein, ob die Menschen solche Slawen sind oder nicht. Falls die europäischen Länder nicht acht geben und zusammenhalten, werden sie bald auch zur Verhandlungssache, denn liberale Demokratien sind in Zeiten der Krisen nicht so beliebt, nicht einmal bei allen, die in diesen Demokratien leben und täglich nach Freiheit schreien. Auch ein Kontinent wie Afrika wird vor allem und immer noch mit gierigen Augen betrachtet: Wo ist Gewinn und Beute zu machen.
Jeden Tag ist auch der Klimawandel ein Thema. Gestern das Schmelzen der Gletscher, heute die Erwärmung der Ozeane, morgen das Sterben der Arten zu Wasser und zu Land. Und auch wenn immer wieder das Wort historisch in jeder Nachrichtensendung beschworen wird, nichts von alledem ist Geschichte. Richtig ist, dass Vieles von dem, was passiert, seine Gründe in der Geschichte des Neunzehnten- und Zwanzigsten Jahrhunderts hat. Und im unzivilisierten und dummen Wesen des Menschen. Im Wesen des gierigen Spätkapitalismus. Was jetzt geschieht, kann zu einem Teil der Geschichte sortiert werden, aber jetzt ist noch nichts Geschichte, geklärt oder wahr. Vielleicht reißen wir uns im Namen der Vernunft noch zusammen und retten die Erde, damit wir auf der Kugel alle miteinander leben können oder wir gehen in einem Katastrophenszenario unter. Die letzte Generation behält dann recht, aber davon hat niemand etwas. Die Reichen in ihren Bunkern auf Neufundland werden auch nicht ewig überleben. Auch das Münsterland hat eine gute Prognose: es wird nicht überschwemmt und nicht extrem heiß werden, nur angenehm wird es nicht mehr sein. Die Bilder, die entstehen werden, können keinem Menschen mehr gefallen.
In der Familie, in meiner eigenen Geschichte kann ich nur Bruchstücke zusammentragen. Ich kenne Leipzig vor Dreiunddreißig von Fotografien und Erzählungen. Gesehen habe ich als Kind meine Geburtsstadt in Trümmern nach dem Krieg, dann im Herbst 1961 nach dem Bau der Mauer und nach 1990. Über die alten Fotografien vom Augustusplatz, von der Idastraße, mit Großeltern und vielen Verwandten kann ich nur staunen. Alle Erzählungen zusammen ergeben nicht die Geschichte. Eher eine Art Labyrinth. In vielem finde ich Linien zu meinem Leben, aber ich kann kaum erahnen, wie sie lebten. Wie sie sich fühlten. Waren sie glücklich in den Gründerjahren, als alles gelang, als sie in Berlin und Leipzig angekommen waren und Neues aufbauten? Was ging in ihnen vor, als sie fliehen mussten? Ich bleibe getrennt von ihnen, auch wenn mein ganzer Tisch voll alter Bilder liegt. Sie wecken in mir eine Sehnsucht. Ich wäre gerne bei ihnen gewesen. Ich hätte gerne mehr von ihren Träumen gewusst. Ich würde gerne aus dem Labyrinth herausfinden.
Mehr weiß ich von einem anderen Land, von anderen Orten. Ich kenne Amsterdam, Haarlem und Zandvoort von kleinauf. Ich weiß um jede Veränderung an der Lauwerszee, in Dokkum und Ee – seit über fünfzig Jahren. Und bei fast jeder Fahrt von Hiddingsel nach Fryslân suche ich eine andere Strecke, andere Nebenstraßen und schaue, was verändert sich. Da sind erst die Bauernhöfe im Münsterland, von denen die meisten nicht überleben. Manche starten neu mit einer Gärtnerei oder freilaufenden Hühnern und Gänsen. Oder als Ferienhof. Natur zum Anfassen. Schlafen im Heu. Manche werden umgebaut, so dass Kinder und Enkel ein Zuhause haben.
Auch an der Autobahn A 31, hoch nach Groningen, verändert sich Vieles: Immer mehr Firmen siedeln sich an. Mit Wohnwagen, Traktoren, Gebrauchtwagen. Auf immer größeren Flächen. Speditionen. Die Moore im Emsland werden trockener. Groningen baut sich seit mehr als dreißig Jahren beständig um. Der Turm der Martinkerk ist zwar in dem städtischen Wirrwarr noch zu erkennen, aber der Stadtkern ist klein im Vergleichen zu den riesigen Flächen für Autobahnen, Industrie und Firmen. Unbebautes Land und die Landschaften werden selbst in Fryslân immer weniger. Neue Kanäle werden gezogen und Baugebiete ausgewiesen. Noch mehr Straßen. Die Betriebe legen sich in immer größeren Kreisen um die Städte und Gemeinden. So bleibt nur ein Rest Bauernland, das große Naturschutzgebiet an der Lauwerszee und die Dörfer, in denen gewohnt wird und die um ihr Überleben kämpfen, weil die Arbeitsplätze anderswo sind.
Jede Veränderung sehe ich und sei es, dass ein altes Haus, in dem früher eine Kneipe war, eingestürzt ist. Dass auf einem ehemals prächtiger Bauernhof langsam die Scheune und die Veranda zerfällt. Ich weiß, wie alles war und was es nicht mehr gibt, was neu ist, was wieder verschwindet, was versucht wird.
Ich weiß, wo früher der Käsehändler in Dokkum war. Einer der feinsten Läden, die ich je erlebte. Wie dieser Mann über seinen Käse sprach, als sei er keine Ware und müsste in großen Mengen an Touristen losgeschlagen werden. Und ich erinnere, wie er am Ende – Dokkum wurde in großem Stil umgebaut – seinen Laden aufgab. So traurig das Gesicht: „Diese Mieten kann ich nicht mehr bezahlen. Die Menschen kaufen im Supermarkt.“ Von den Supermärkten gab es immer mehr in Dokkum. Die kleinen Läden verschwanden leise. Irgendwann verschwand auch die alteingesessene Frieslandbank. Dann war auch der Fischhändler weg, der ein Fischer war. Er öffnete, wann er wollte, stand vor der Ladentür, rauchte und verteilte frisch gefangenen Matjes, wie es ihm Spaß machte.
Ich weiß, wie früher, in den Sechziger Jahren, noch Lastkähne anlegten. Wie sie verschwanden, wie immer mehr Anleger für die Segeljachten und Motorboote der Touristen entstanden. Wie die Touristen das Stadtbild bestimmten, wie nach und nach Kneipen verschwanden, wie Dokkum eine feine Stadt für die Besucher wurde. Am Diepswal sind heute Terrassen ins Wasser gebaut, die bewirtschaftet werden.
Ich weiß noch, dass früher selbst im kleinsten Haus eine Kaminumrandung eingebaut war. Auch wenn es keine Feuerstelle gab, sondern in der Vertiefung ein einfacher Ofen stand. In dem ehemaligen Knechtshaus in Ee war der Kaminsims und die Verkleidung bis zur Decke aus Holz sehr einfach gezimmert und angestrichen. Der schmale Ofen zog nie gut, hat aber viele Jahre das vom Strand gesammelte Holz verbrannt und die Stube gewärmt. Nach zwanzig Jahren und dem Einbau einer Heizung wurde der Vorbau abgeschlagen und ein Sofa nahm den Platz ein.
Schade war es darum, ebenso wie noch viel früher um die Schrankbetten der beiden Knechte. Daraus wurden eine Dusche und ein kleiner Arbeitsplatz. So geht das mit dem Fortschritt. Auch bei mir.
Die Geschichte hat manchmal komische Augenblicke und werden sie dann fotografiert, kann ein Lächeln entstehen aus der Trennung zwischen dem Wissen um Zeitenläufe, Moden und dem, was auf dem Bild geschieht. Denn Geschichte ist mehr als die Zeit, in der ich noch nicht auf der Welt war oder noch nicht die Welt wahrnahm. Die Fotografien schließen nicht nur aus, sie verbinden, wenn ich eine Linie ziehe zwischen dem, was ich sehe und dem, was ich weiß. Wenn ich die Trennung annehme und nichts besser wissen will.
Als in Dokkum der erste Selbstbedienungsladen eröffnet wurde, standen die Leute Schlange.
Wenn der Himmel sich in den Wellen und auf dem Meeresboden spiegelt, ist das Denken leichter. Meist aber ist der Himmel über mir gewölbt, dann bleibt das Denken anstrengend. Erfinden ist leichter, aber manchmal will ich das Denken aushalten und auch das Betrachten alter Fotografien, die die Grenzlinien aufzeigen.  (© J. Monika Walther)

Von Köchinnen und Konsum

Wann soll eine Köchin lernen, die Staatsgeschäfte zu führen? Ein Leninzitat steckt hinter diesen Worten, das plakatiert in den sechziger und siebziger Jahren in vielen Wohnungen, Buchhandlungen und Frauenverlagen hing. In Deutschland. West. In ihrem Film Redupers funktioniert die Filmemacherin Helke Sander den Satz um. Sie fragt, woher soll eine Köchin die Zeit nehmen, Politik zu machen, wenn ihre Arbeit sie so erschöpft, dass es für sie zu einer Anstrengung wird, den nächsten Tag zu planen. Janis Joplin amerikanische Sängerin
Um die Köchinnen ist es den Genossinnen und Genossen damals nicht gegangen, auch wenn die Köchinnen Gegenstand mancher akademischen Abschlussarbeit wurden. Versteckt zwischen Marx und Feuerbachthesen. Auch heute interessiert sich kaum jemand für Köchinnen, außer sie besitzen Restaurants und treten im Fernsehen als Stars auf. Bei dem hoch gehandelten Hartzvier-Reförmchen, Chefgerangel von Damen und Herren der Politik, geht es weder um fünfhundert Euro noch um Köchinnen und deren Kinder, noch um eine Politik mit Sinn für Zukunft, sondern darum von einer Schandtat wegzukommen, einer öffentlichen Meinung zu genügen, ein bisschen so zu tun als ob, ohne soziale Gerechtigkeit herzustellen. Die einen meinen es gut, die anderen haben eine Freude daran, die Armen gegen die Ärmsten zu hetzten und von denen wiederum glauben einige, ihnen würde etwas genommen, wenn die Ärmeren eine Scheibe Kinderwurst mehr bekämen. Die Republik bleibt ein Billiglohnland. Das Menschenbild vieler Politiker ist zu tiefst deprimierend und entspricht inzwischen jeder Kapitalismuskritik: Der Mensch wird geboren, um hart zu arbeiten, irgendwo in der Mitte der Gesellschaft, damit sie und er konsumieren können, was wiederum die Reichen etwas reicher macht und den Laden am laufen hält, aber wenig zur Lebensfreude beiträgt. Inzwischen geht es nicht einmal mehr um eine lebbare Zukunft auf dieser Erde, sondern nur um Ausbeutung von Mensch, Tier, Rohstoffen, Hauptsache Gewinn. Karl Marx war da noch geradezu vornehm in seiner Beschreibung. Und die Gier ist nicht zu stoppen.
Bis heute ist es den Meisten am liebsten, wenn die Köchinnen in den Küchen, wenn wir unter uns bleiben. Ein kleines Stück Sicherheit. Aber dieser Wunsch unter ihres- und seinesgleichen bleiben zu wollen, führt zu einem immer größer werdenden Verlust an Öffentlichkeit. Mangel an Zuständigsein, an Interesse. An Gemeinwesen. An Solidarität. An Plänen für die Zukunft jenseits der Gewinnmaximierung.
Bei Verlagen wird gejammert, weil die Köchinnen angeblich nicht lesen, die Auflagen sinken und die eingekauften Spitzentitel keinen interessieren. Sind ja auch meist Ramschware. Weder Spiegelungen der Wirklichkeit noch gesellschaftskritische Panoramen sind unter den Neuerscheinungen nahezu aller Verlage zu finden: Sie setzen auf Thriller und Schmöker. Und Selbstbespiegelungen, die selten in die Geschichte oder wenigstens Geschichten eingebettet sind, Die Literaturvorschauen sind voll von Nichtssagendem. Ein Wust an Unerheblichkeiten. Es soll unabhängige Buchhändler geben, die den Einkauf der Neuerscheinungen reduzieren und stattdessen Taschenbücher aus der Backlist bestellen, hoffentlich auch „Das Narrenschiff“ von Katherine Anne Porter. 2010 – neu übersetzt -wieder aufgelegt. Ein literarisches Ereignis, ein weiblicher Klassiker der Weltliteratur, ein wahrhaft wuchtiger Gesellschaftsroman, der in der Bundesrepublik der sechziger Jahre auf tief verstörte Ablehnung stieß.Wenn heute Filme, Bücher und Platten von Frauen auf den Bestsellerlisten stehen, wenn heute mehr Schriftstellerinnen Virginia Woolfs Wunsch und Rat begriffen haben, dass es keinen Arm gibt, auf den wir uns stützen können, dass wir allein gehen, dass wir uns an die Freiheit gewöhnen müssen und an den Mut, genau das zu schreiben, was wir denken, dann ist dies das Ergebnis jahrelanger Anstrengungen einzelner Frauen. Nein, Alice Schwarzer gehört da nur begrenzt dazu. Da wären viele, viele andere vorher zu nennen.Wo könnten sich Köchinnen und Schriftstellerinnen treffen? Im Modus des unbedingten Interessiertseins, des Zuständigseins für die eigene Wirklichkeit. Könnten!Wo könnten sich Köchinnen und Schriftstellerinnen treffen? Ja, auf einem „Narrenschiff“, oder: beim Trost der Dinge, sprich beim Einkaufen. Oder: Bei dem Versuch reicher zu werden: eine Zukunft zu haben, bei der jede Bürgerin eine Grundsicherung erhält, was faktisch bedeuten kann, Geld für Arbeit, die aber nicht 40 Stunden geleistet wird, sondern vielleicht 25. Dieses Einkommen stockt sich auf: Fundraising, Tausch, Freundschaft, Neugier, Gemeinschaft, Erfindergeist, selbständige Geschäfte. Ziel: Unabhängigkeit vom Staat (in Deutschland schwer sich auszudenken, bei der erdrückenden Allgegenwart und Rechthaberei staatlicher Verwaltungsbehörden). Die amerikanische Soziologin Juliet Schor: „Die Erschöpfung des Planeten ist für viele Bürger schwer zu ertragen. Es kommt darauf an, dass sie als Bürger wieder eine Erfahrung der Handlungsfähigkeit machen. Viele haben in der Konsumkultur das Lernen verlernt und die Fertigkeiten, sich selbst zu erhalten. Das ändert sich gerade, und die Erschütterung der Finanzkrise kann als Motor wirken.“
Der Zwänge sind zu viele geworden. Der Erschöpfungen. Autorinnen sind nicht dazu da, Autoren als Rolle zu geben, sondern Verantwortung zu übernehmen, Interessiertsein an unserer Gesellschaft, Zuständigsein.
Wir brauchen neuen Mut, um das zu schreiben, was wir denken und zu handeln, wie wir wollen. Und wir brauchen eine grundsätzliche Solidarität, sei es in einer Organisation oder in freien überschaubaren kollektiven Zusammenschlüssen. Denn ohne die Chance eines gemeinsamen Handelns werden wir auch das wenige verlieren, das wir noch haben. Die soziale und politische Stellung der Schriftstellerin und des Autors ist in diesem Land – in West wie Ost – äußerst gering geworden. Kompetenz wird uns kaum zuerkannt.
Der Wert eines Manuskriptes, eines Filmbildes, einer Phantasie, eines Computerprogramms liegt nicht in der Höhe der Auflage oder der Einschaltquote, in der Menge der Benutzerinnen, sondern im Original. Wirklich kreatives Handeln ist von Natur aus immer subversiv und ist deshalb in der Regel nicht gestattet. Es ist ein Akt der ständigen Erneuerung. Es ist eine Profession und eine Leidenschaft. Wenn wir mit dieser Profession leben und von ihr leben wollen, müssen wir mit Leidenschaft und sehr viel Wissen und Können für uns und unseren Beruf einstehen.
Für sein Eigenes einstehen. Das ist vor allem anderen die Aufgabe der Künstler und Schriftstellerinnen, vor dem ersten Wort, dem ersten Ton: Die Poetik des Suchens. Eine Bewegung, die keine Jahrhundertgrenzen, keine Zeitbarrieren kennt. Die Poetik des Suchens verharrt in keinem Beweisnotstand, muss sich nicht mit dem ersten Wort als modern, Teil der Vormoderne oder Antimoderne definieren, denn wir sind die Geschöpfe, die sich selbst beobachten, die nach einem Anfang und Ende je suchen. Und jedes Subjekt fängt als Kopie an und erschafft sich in dem Maße neu, indem es gelingt, die Kopie abzutragen. Wir wären ein Original, wenn nicht von Anfang so vieles festgelegt würde und bestimmt ist.
Die Poetik des Suchens beinhaltet äußerste Radikalität zu sich selbst, die Klarheit in der Phantasie und bedeutet auch, wo keine Aussicht ist, diese zu beschreiben, zu sagen, da ist keine Aussicht.
Die meisten Wissenschaften sind Ergebniswissenschaften, sind Wissenschaften, die Festgefahrenes sortieren und präsentieren, Prozesshaftes lassen sie selten zu, hinken mit Welterklärungen, mit statischen Modellen den jeweiligen Zeiten hinterher und die Insel Utopia bleibt unerreichbar. Dominanz und Allumfassendes hat in vielen Wissenschaften einen hohen Wert, dabei gibt es doch schon längst keine eindeutigen Kriterien mehr für die Beschreibung unserer Lebenssituationen. Kunst, Literatur ist eine der besten Möglichkeiten die Beschreibungen der vielen Schichten und Bewegungen zu retten, das Erinnern im Heute zu leisten. Und eine Zukunft zu entwerfen. Keine Kopien der Vergangenheit. Aber im Wissen der Geschichte.

© Jay M. Walther

Ich weiß alles, aber sag es dir nicht – Erzählperspektiven

Jede Erzählperspektive bewirkt einen anderen Beginn und Verlauf der Handlung, vermittelt einen anderen Eindruck der Ereignisse, lässt die Leserin etwas anderes erleben und wissen. Ein Familientreffen, ein Essen – alle sitzen um den Tisch. Ein Mädchen spielt in einer Zimmerecke. Ein Mann steht im Türrahmen und hört zu. Satzfetzen dringen bis in die Küche. Die fünf Menschen, zwei Paare und ein selbstgefälliger Gastgeber, am Tisch streiten sich, Drohungen werden gebrüllt. Das kleine Mädchen rennt auf die Terrasse. Jede Person erlebt eine andere Szene, verfügt über anderes Wissen. Wenn alle diese Ichs ihre Geschichte erzählen würden (die Ich-Erzählerinnen) wissen wir immer noch nicht alles. Wir erfahren eine Fülle an verschiedenen Geschichten; vielleicht erfahren wir nicht einmal, was es zu essen gab, von welchem Geschirr gegessen wurde, wie der Tisch eingedeckt war, weil es keinem der Ichs wichtig war. Vielleicht spricht nur die Frau in der Küche davon, dass es immer lauter wurde, als sie die Kartoffeln in Zitronenschaum schwenkte und nach dem Lachs sah.

Nichts wird von außen bewertet, wenn das Ich erzählt. Die Leserin sieht die Welt mit den Augen der Ich-Erzählerin. Wir erfahren nur das, was sie denkt, weiß, glaubt, erlebt zu haben.
Interessant ist, dass die Ich-Erzählerin personale und auktoriale Perspektiven annehmen kann. Das erzählende Ich kann eine Geschichte rückwirkend erzählen und somit allwissend in Bezug auf die Geschichte sein. Oder das personale Ich erlebt die Geschichte selbst und kann nur wissen, was es jetzt erlebt oder erinnert. Das Ich und die Leserin wissen beide gleich viel.
Wenn wir fragen, was die Erzählerin weiß (sie ist nicht identisch mit der Autorin), gibt es drei mögliche Antworten. Entweder weiß die Erzählerin alles über die Handelnden oder sie weiß nur von einer oder mehreren Personen oder aber sie weiß gar nichts und betrachtet eine Situation ausschließlich von außen. Ein Roman muss nicht durchgehend aus der gleichen Erzählperspektive erzählt werden. Die Position, die die Erzählerin im Laufe der Handlung einnimmt, kann sich verändern.
Wenn auf die Tischgesellschaft, auf das Haus, auf die vielen Ichs und Sichtweisen ein erzählerischer allwissender Gott schaute = die auktoriale Erzählerin, dann ist die Schreibende eine, die alles weiß über die handelnden Figuren. Dieses Wissen ermöglicht es der auktorialen Erzählerin, Zusammenhänge zwischen den Protagonisten und Gegenspielerinnen, aber auch zwischen allen anderen Charakteren der Geschichte aufzuzeigen. Außerdem ist es ihr möglich, das Geschehen in Rückblenden oder Vorwegnahmen zu erzählen. Eine wahrhaft göttliche Perspektive, aber die Erzählerin ist nicht identisch mit der Autorin. Also auch nicht in ihren Kommentaren und Wertungen. Die auktoriale Erzählerin weiß mehr als die Figuren, sie weiß, was diese denken und fühlen, kann Hintergründe beschreiben. Mit der Leserin blickt sie von außen auf die Geschichte, weiß aber viel mehr als diejenige, die liest.
Der Streit der Gesellschaft um den Tisch ist aber auch aus der Sicht einer personalen Erzählerin zu beschreiben. Ein Er, eine Sie oder das Mädchen, der Mann im Flur oder der Gastgeber. Die personale Erzählerin weiß keineswegs alles. Sie beschreibt das Geschehen aus der Perspektive einer einzelnen oder mehrerer Figuren der Geschichte und sie kommentiert nicht. Sie schlüpft in eine der Rollen und schildert der Eindrücke. Der drohende Gastgeber weiß, was er von den anderen will. Die Frau in der Küche könnte von seinem Plan wissen, weil er mit ihr gesprochen hat, als er die Einladung mit ihr besprach. Aus ihrer Sicht, als eine Sie, wäre die Geschichte also auch zu erzählen.

Die personale Erzählerin kann immer nur das wissen, was die betreffende Figur weiß. Alle anderen Hintergründe oder Geschehnisse, die nicht zu der Figur gehören, weiß sie nicht. Nur dann, wenn die Figur des Textes selbst darauf stößt. Folglich kann die personale Erzählerin keine Rückblenden oder Vorwegnahmen zum Erzählen nutzen. Die Leserin erfährt es nur dann, wenn die Figur selbst darüber spricht oder sich an Vorhergegangenes erinnert.
Eine weitere Möglichkeit ist die neutrale Erzählerin. Sie schildert ausschließlich, was äußerlich wahrnehmbar ist. Vergleichbar mit einer Kamera bei einem Banküberfall. Oder wenn der Mann im Türrahmen ein Fremder wäre, der etwas abzugeben hat und nicht weiß, was die Tischgesellschaft umtreibt. Die neutrale Erzählerin greift also nicht alles wissend ein und kommentiert nicht das Erzählte oder nimmt die Perspektive einer oder mehrerer Figuren ein. Sie beschreibt, wie die Figuren handeln und agieren. Der Gastgeber schreit, das Mädchen rennt auf die Terrasse, die beiden Paare schauen betroffen auf ihre Teller, aus der Küche ist ein Klirren zu hören. Effi Briest von Theodor Fontane ist ein Beispiel für diese Erzählweise.
Viele Romane setzen auf eine einzige Erzählperspektive, aber es ist auch möglich, die Erzählweise zu wechseln. Die Geschichte kann von verschiedenen Ich-Erzählerinnen vorangetrieben werden, aber auch ein Wechsel zwischen den anderen Perspektiven ist durchaus möglich und in der Literatur zu finden. Solche Perspektivwechsel gibt es in der moderner Literatur, die das Erzählschema aufzubrechen. Ein Beispiel ist der Roman Berlin Alexanderplatz von Döblin.
Grundsätzlich unterscheiden wir zwischen vier verschiedenen Erzählperspektiven. Die auktoriale (allwissende), personale (Er/Sie-Perspektive), neutrale (ohne klare Erzählsituation) und dem Ich-Erzähler. Alle vier ermöglichen einen anderen Blickwinkel auf die Geschichte. Aus keiner erfahren wir aber, was die Autorin denkt und meint. Sie ist diejenige, die das Erzählen steuert, aber nicht verrät, was sie alles weiß, warum sie was wie macht. Sie muss aber ihr Handwerk können, sonst gerät der Ablauf der Handlung, geraten die Perspektiven durcheinander. Dann kommt die Frau aus der Küche und gibt dem Gastgeber eine Ohrfeige und sagt: So benimmt man sich nicht. Oder das kleine Mädchen besteigt den Tisch und sagt: Erwachsene sind immer so laut. Aber auch das wäre mit einer neutralen Perspektive zu erzählen.

© J. Monika Walther

 (Bild von Oskar Schlemmer)

Die Ökonomie der Poesie und Digitalisierung der Kultur – Dickinson und Droste mailen

 „Nahm einen Schluck vom Leben –
Ich sag dir was ich gezahlt –
Genau eine Existenz  –
Der Markt-Preis, wird gesagt“, schrieb Emily Dickinson.

Emily Elizabeth Dickinson lebte von1830 bis1886. Hätte es damals schon Internet gegeben, dann hätte Emily mit der Droste mailen und sie hätten einander verraten können, was die vielen Gedankenstriche in ihrer beider Werk bedeutet. Das viele Nicht- Gesagte.
Annette von Droste-Hülshoff oder vielmehr Anna Elisabeth Franzisca Adolphina Wilhelmina Ludovica Freiin von Droste zu Hülshoff lebte von 1797 bis 1848, könnte der Dickson antworten:
Blicke über Wassergräben und geschorene Hecken.
Harter Buchsbaum und feuchte Mauern.
Die Wahrheit als eine absolute behauptete – ist mehr
als das dramatische Ende jeder Erzählung:
Sie tötet jede weitere Frage, mein Denken, mein Leben.
Also lass uns fern der Wahrheit bleiben. Oder siehst du
eine Leiter in den Himmel? Wenigstens
den Konjunktiv – um dem Quadrat zu entrinnen?

 Emily könnte aus Amherst in den Vereinigten Staaten antworteten:
Ich kaufe ein Schreibheft – und beginne zu notieren.
Dass ein Nachbar vorübergeht. Nötigung und Versuchung –
zweiundzwanzig Uhr fünfundvierzig: Meine Tür bleibt verschlossen.
Um halb drei ein einzelner Vogel. Um halb vier tausend Krähen, sie haken mich tot, aber ich lächle tapfer und schreibe Briefe. Ich notiere:
Der Tod einer schönen Frau, ist, ohne Zweifel, das poetischste Thema, sagt Edgar Allan Poe. Ich bin nicht schön. Oder? Du kennst mich nicht. Du siehst mich nicht. Ich bin nicht schön. Oder? Bin ich schön? Ich bin schön. Die dritte vierte fünfte Stunde der Vogelschläge. Und ich bin tot. Schön oder hässlich. Ich bin tot. Ich habe keinmal – geheiratet. Keinmal. Keinmal. Aber geliebt.Ich hatte meine Affären. Und meine Heckenschützen verdienen ihr Brot. Für jeden, den sie erschießen, gibt es ein belegtes Brötchen. Butter bis an die Ränder, zweimal mit dem Messer über die Krusten, die Butter in die Krume gedrückt und über die Ränder den salzigen Schinken gelegt. – Dass sie schießen. – Dass ich schön bin. – Dass keiner an der Tür klopft. Dass ich schön bin. Das weiß ich. Das sehe ich auf dem einzigen Foto. Eine fade Gans aus Amherst. Ich bin unsterblich.

Annette Droste mailt zurück:

Die Blicke der Väter.
Die Blicke der Männer.
Die Blicke über mich –
das Gerede zwischen Aasee und Schloss –
Der Schmerz hat keinen blinden Fleck.
Dazu die Leere des Sprechens.
Diese Kommentare auf ein Leben
Kommentare auf mein Lieben
Kommentare zu Nase und Locken
Bemerkungen zu Liebesmöglichkeiten
Entehrungen jeder Art – aber
nach mir sind Preise genannt.
Das Rüschhaus wird besichtigt.
Da mein Schreibtisch, das Spinett.
Das Fenster über der Diele.
Die feuchte Kälte, der Buchsbaum
draußen wie damals. Die Droste.
Sie schreiben über uns, Emily.
Sie verdienen Geld mit uns.
Sie wissen nicht, was sie von uns halten sollen –
Die Blicke sind unterschiedlich lang,
auch die Jahre. Und die Jahrhunderte.
Ich sage es dir: Das 19. Jahrhundert ist für Europa
ein sehr langes Jahrhundert, beginnt im
Jahre 1789 und endet erst 1914.

Das Résumé von Emily Dickinson und der Droste:

Ich sag dir, was ich gezahlt. Hundert Jahre.
Ich sag dir, was ich bekomme. Ich lalle und kichere.
Ich sag dir, was ich gezahlt. Eine Existenz.
Ich sag dir, was ich bekomme. Haut abgezogen, Schlitze reingeschnitten und einen Himmelsblick.
Ich sag dir, was ich tue: Ich schaue von innen durch die Löcher in meiner Menschenhaut und reise jeden Tag quer über die Pole.
Ich sag dir, draußen vergeht das Leben und wir sitzen herinnen,
gehen im Kreis und lassen uns den Atem rauben.

Emily Dickinson und Annette von Droste-Hülshoff, die beiden Dichterinnen der Gedankenstriche, sind heute gut verwertbare und interessante Damen. So viele Bücher über die beiden, Neuauflagen, Editionen, Hörbücher. Bearbeitungen. Diese Poesie rechnet sich nun. Der Mehrwert ist da.
Poesie bedeutet, dass eine sich der Sprache entziehende, über das Werk hinausgehende Wirkung geschaffen wird. Etwas das mehr ist als der Mehrwert und wir selbst.
Digitalisierung bezeichnet die Überführung analoger Größen in abgestufte Werte, zu dem Zweck, sie elektronisch zu speichern oder zu verarbeiten. 2007 wurde bereits 94 % der weltweiten technologischen Informationskapazität digital gespeichert (nach lediglich 3 % im Jahr 1993). Vermutlich war es der Menschheit im Jahr 2002 zum ersten Mal möglich, mehr Information digital als analog zu speichern: der Beginn des „Digitalen Zeitalters“. Sprachlich sind wir inzwischen so ungenau, dass alles und jedes „historisch“ ist und unentwegt neue Zeitalter beginnen.
Der Kulturbegriff hat immer auch einen Zusammenhang mit Zeitgeist, Herrschaftsstrukturen, gesellschaftlichen Klassen, Anschauungen und er deckt die Beschreibung ebenso ab wie die normative Verordnung, was Kultur zu sein hat. In der Kulturkritik werden dann die einzelnen Kulturleistungen des Menschen kritisch befragt auf ihre zerstörerischen, unmoralischen und unsinnigen Folgen.


„Kultur ist Reichtum an Problemen“, sagt der Kulturphilosoph Egon Friedell, eine schöne österreichisch schlampige Definition. Und schlampig beliebig wird mit diesem Begriff ebenso umgegangen wie mit dem der Ökonomie, der ursprünglich einmal für die Aufwendungen und Erträge galt, die der Mensch braucht, um seinen Unterhalt zu sichern. Das war sozusagen die Ökonomie 1.0. Es ging um das physische Überleben, dann folgte die Sicherung des Wohlstand und als Ökonomie 3.0 beschreiben einige Autoren eine infolge der digitalen Revolution und dem Web entstandene Ökonomie, die sich durch teilhabende Entwicklungs- und dezentrale Produktionsstrukturen auszeichnet. Die Idee dieser Autoren ist, dass die Kunden ihre Bedürfnisse im Internet formulieren und mittels sozialer Netzwerke Gleichgesinnte suchen. Firmen nehmen diese Vorstellungen auf und entwickeln das gewünschte Produkt oder die Interessenten sammeln per Crowdfounding das Geld für die selbstständige Entwicklung des Produktes. Menschen wären dann das immaterielle Kapital. Nach Meinung dieser Autoren untergräbt dies die bisherigen Produktionsstrukturen und demokratisiert die Produktionsprozesse. Das sind Wunschträume, denn der späte Kapitalismus erweist sich als außerordentlich habgierig und kapitalstark. Wahr ist aber, dass die Menschen und ihre Daten zu Kapital werden. Nicht für sich, aber für andere. Der Mensch degradiert sich selbst zum Datenempfänger und Datengeber. Und macht sich immer abhängiger – von den digitalen Lebensgefährten. Das digitale Virtuelle ist längst Wirklichkeit, aber es gibt auch noch die vielen anderen Realitäten, der wir wahrnehmen könnten, was natürlich Arbeit bedeutet, konzentrierte und sorgfältige Arbeit. Digital ist bis jetzt Masse, Unendlichkeit der Daten, Kopierbarkeit. Sie nützt dem Kapital, aber nicht uns. Und im Augenblick muss Europa nicht nur begreifen, dass nicht der Euro der Maßstab ist für diesen Zusammenschluss der Staaten, sondern Rechte, Menschenwürde, also die Vereinigten Staaten von Europa und nicht das vereinigte Kapital dieser Länder. Aber – in Sachen Ökonomie beginnt eine Neudefinierung von Wirtschaft. Ging es bisher um Digitalisierung von analogen Inhalten, beginnt step by step die Digitalisierung der Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft. Und was das bedeutet, das ist bis jetzt kaum vorstellbar. Deutschland ist kein Erfinder- und kein Dienstleistungsland, sondern immer noch ein Industrieland; die Algorithmen werden aber sogar das Kredit- und Anlagegeschäft völlig neu sortieren. Es geht nicht mehr um ein paar Apps und neue Programme, es geht um Software, die Alltag, Leben und den Kapitalismus verändern wird.
Jede Ära, jede Ideologie bringt ihr eigenes Menschenbild hervor. Deshalb hält sich die Illusion des Glaubens an Fortschritt und Wachstum hartnäckig auch auf allen Gebieten, wo längst kein Fortschritt mehr stattfindet. Deshalb konnten und können sich die reaktionärsten Zeiten immer wieder als modern gebärden, weil sie im Spiegel ihrer Bilder von der Wirklichkeit die Bestätigung ihrer eigenen Projektionen erblicken. Das Bild vom Menschen, das sich schließlich durchsetzt, wird zur Norm erhoben. (Anna Mitgutsch).

Aber es gibt Regulative, Bereiche, die resistent sind gegen Moden. Es hat zu jeder Zeit Kritik am Zeitgeist gegeben, besonders in der Kunst. Dort braucht es Wagemut, utopische Gedanken, Beständigkeit, Disziplin, Wissen um Geschichte und Verknüpfungen. In Kunstwerken, die uns das Unsagbare erahnen lassen, suchen wir nicht das Nützliche; sie sind Annäherungen an den nicht fassbaren Kern unserer menschlichen Existenz. Kunst, Poesie hat ein Geheimnis, das im Augenblick der Entdeckung ein Bild vom Menschen zum Vorschein bringt, das ihn den Moden und Zwängen der Zeit enthebt, ihn von seiner Zufälligkeit befreit. Aber natürlich wird auch diese Begegnung vom Kapital vermarktet, soweit sie nur irgend in den Griff zu bekommen ist.
Die österreichische Literaturwissenschaftlerin Anna Mitgutsch schreibt: Zeiterscheinungen wie Globalisierung, Primat von Kapital und Digitalisierung haben das Menschenbild und das Leben im letzten Vierteljahrhundert sehr verändert. Viel Begeisterung ist einer Skepsis gewichen; wenn die Welt trotzdem als besser erlebt wird, dann liegt das vor allem am gestiegenen Lebensstandard, dennoch können viele Menschen in der Übersättigung dieser glücklichen neuen Welt, mit Käuflichkeit fast aller Dinge und Konsum ihr Leben oft nicht genießen. Die Kulturindustrie hat die apokalyptischen Ängste der Bürger längst vermarktet, hohe Gewinne eingefahren, auch das immer auf allen Ebenen der Verwertungsmöglichkeiten. Ebenso wie die der Sinnsuche, auch sie ist, digitalisiert und vermarktet. „Die postmoderne Individualitätsbildung zielt auf die Formung des perfekten Konsumenten. Die Verweigerung von Verantwortung und die Bindungslosigkeit des flexiblen Menschen unterdrücken den moralischen Impuls und setzen moralisches Empfinden herab.“
(schreibt der polnisch-britische Philosoph Zygmunt Baumann).
Wie konnte dieser durchgestylte Materialismus entstehen? Neben dem Zerbrechen früherer Menschenbilder am Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus und der Globalisierung der Geldflüsse gibt es auch den Grund des Verlustes der Zusammenhänge, der Auflösung der Zeit-Raum- Kontinuität, einer bis zum Wirklichkeitsverlust gehenden Fragmentarisierung der Realität und Funktionalisierung von Beziehungen. Alles wird zum Gegenstand der Unterhaltung und des Nützlichkeitsdenkens. Frage ist, ob das jeweilige Objekt bzw. Subjekt interessant und nützlich ist. Dieser Siegeszug der Postmoderne und ihrer Auswirkungen auf das augenblickliche Bild des Menschen steht im Zusammenhang mit der Allgegenwärtigkeit der Medien, sodass Ursache und Wirkung, Realität und Manipulation schwer zu unterscheiden sind. Manipulierte Realität und die virtuelle Welt und die Wirklichkeit werden immer mehr fragmentiert, sodass ein Sinn, das Ganze, die Entwicklung kaum noch zu erkennen sind. Wir haben nicht teil an der Realität, weil die Zusammenhänge, die Hintergründe aufgelöst sind, d. h., die Möglichkeiten der Digitalisierung stellen sich zwischen die Wirklichkeit und die Wahrnehmung. Eher zweifeln wir an der Realität als an den Bildern und Fragmenten, die über die Medien uns die Welt zelebrieren. Obama Merkel und die Weißwurst zwischen echten bayrischen Menschen, wir haben es alle gesehen. Absurdes teures Theater. Wir haben einen digitalisierten Salat im Kopf und alles hat seinen Marktwert, der vom Konsens der Mehrheit abhängt: Eine Perversion der demokratischen Idee. Alles ist käuflich, dabei sind die großen kulturellen Leistungen selten mehrheitsfähig. Die nicht in Mehrheitsfähigkeit umsetzbare Qualität wird mittels Quoten, Absatz, gelesene Seiten in messbare Quantität gedrängt, wobei die Börse eben keine Wertbeständigkeit kennt. Sie will Mehrwert, mehr Wachstum. Sie will auch nicht, dass wir die Welt begreifen, und uns kreativ mit ihr auseinandersetzen. Welt und Leben wird für viele etwas, das step by step ab zu haken ist. Dadurch, dass der Mensch in die Funktionalisierung und völlige Monetarisierung des Lebens eingebunden wird, werden auch Begriffe wie Würde, Integrität, Gewissen, Authentizität umgewertet. Der Narzissmus der ängstlichen und genussorientierten Selbstbeobachtung lässt kaum noch Auseinandersetzungen mit der Außenwelt zu.
Im Augenblick wird in der Gesellschaft der Narzissmus belohnt. Narzissten suchen nach Bewunderung. Mit der Digitalisierung (auch der Kultur) finden sie überall ein Publikum, und wenn es die tausend Menschen sind, die auf Facebook, Twitter oder Instagram folgen, und die neuen Schuhe, den Blick aus dem Fenster, das neue E-book oder die Hasstirade auf die Flüchtlinge bewundern, gutheißen. Man überlässt es nicht mehr den Profis, sich in Szene zu setzen. Als Narzisst kann man es heute weit bringen, allerdings bleibt trotz dieser fantastischen, wenn auch dilettantischen Möglichkeiten, immer die Kränkbarkeit der Narzissten. Sie verlieren ja die Orientierung, wenn die Bewunderung, der Applaus ausbleibt. Sie werden fassungslos und hasserfüllt, wenn jemand anders denkt und fühlt als sie selbst. Die brandstiftenden Fremdenhasser, die Judenhasser, die vielen Dilettanten gleich in welchem Bereich, ertragen ihr Gegenüber nicht, weil sie sich darin nicht wiedererkennen. In der digitalen Gesellschaft kann der Hass geäußert und die Kränkungswut ausgelebt werden. Und: Die Sprache der Behauptungen ist viel einfacher, weniger anstrengend als die Sprache der Nuancierung, der Ambiguität, der Genauigkeit, gar der Poesie.

Es geht nicht darum, Medien und Digitalisierung abzuschaffen oder irgendein Rad rückwärts zu drehen, aber was zurechtgerückt werden könnte, wäre das Bild des Menschen von sich, von der Wirklichkeit und von der Poesie, in der er, sie, es lebt. Der Mehrwert des Menschen sollte wieder ein geistiger, ein menschlicher sein, nicht in Kosten und Nutzen quantifizierbar. Allemal jenseits der besserwisserischen Abgebrühtheit und der achtungslosen Blasiertheit, die heute oft den Umgang zwischen Menschen und Amtsträgern prägt.

Jedes authentische Kunstwerk ist Ausdruck eines Dialogs zwischen Künstlern, Künstlerinnen und der Wirklichkeit. Im Kunstwerk verbindet sich das Materielle, Hörbare, Sichtbare mit dem Unsagbaren. Auch Sprache braucht Zeit zu ihrer Entfaltung (da sind wir wieder bei der Droste und Emily Dickinson), sie braucht Langsamkeit und Konzentration, sonst gerinnt sie zu Gemeinplätzen und Stereotypen. Genau solche Sprachsalate werden heute überall als Literatur verkauft. Massenware. Aber es geht nicht darum, Konsumenten bei Lust und Laune zu halten. Und die Aufgabe des Lebens besteht nicht darin, die eigenen Bedürfnisse zur optimalen Zufriedenheit zu erfüllen. Wir müssen uns die Wirklichkeit als Gegenüber zurückerobern und uns selbst und die Kunst dem Nützlichkeitsdenken entreißen. Die Oberfläche ist eben nicht die ganze Botschaft, so wenig wie die Schminke. Aber auch der Horizont ist im 20. und 21. Jahrhundert abhandengekommen. So gilt immer noch die Frage der Emily Dickinson: „lohnt auch das Geheimnis den einsamen Gipfelgang?“ Die dänische Dichterin Inger Christensen antwortet: „… eine Nacht ohne Licht, ohne Unterschiede, ohne all das, dem wir sonst Namen geben, eine Nacht, definiert durch die Abwesenheit von allem. Und dann kann es schon sein, dass dies ‚alles’ seine eigene Abwesenheit umfasst.“
Es lohnt sich das Handwerk, gleich in welchem Beruf, zu erlernen; es lohnt sich, sich dann auf den Weg zu Gipfeln zu machen und zu schauen, wie weit man kommt. Ohne das Nützlichkeit- und Mehrwertdenken. Punkt.
Streifen wir kurz noch durch die glitzernden Haupt- und Einbahnstraßen der digitalisierten Kultur und Ökonomie. Das Kapital interessiert an der Kunst ausschließlich die Verwertbarkeit auf allen Kanälen und Levels. Es geht ja nicht nur um die Digitalisierung der Kultur in Deutschland, sondern längst auf vielen Ebenen wie dem Büchermarkt um Forderungen an die europäische Politik, um gleiche Regeln und auch um europäische Forderungen an weltweit agierende Firmen wie Google, die inzwischen Kapitalgeber für Medien in Europa sind. Google, Apple, Facebook, Microsoft und Amazon wollen als Kapitalisten natürlich ihre Überlegenheit und Marktherrschaft weiter ausbauen, denn wer die Daten hat, hat Macht und bekommt immer mehr Kapital. Die Schriftstellerin Nina George sagt, die Digitalisierung sei bitter-süß. Süß – weil die Digitalisierung Chancen bietet: Publishing, Informationen, neue Kunstformen, Videokunst, Digitalkunst, on demand Kanäle jeder Art, MP 3, You Tube, Hörbucher. Neue Techniken wie Smartphone, Smartview, smarthome. Neue Verkaufstrategien.
Irrtümer, Interessen und Ausbildung bestimmen unser Denken, unsere Haltung. Propaganda und Ideologien nutzen unser Nichtwissen und Schwächen aus. Und sie benutzen jedes Mittel der Vereinfachung und unsere Vorurteile, um ihre Botschaften glaubhaft zu machen. Sie benutzen Menschen, um Ideologien mit Geschichten auszustatten und in die Geschichte zu integrieren. Um das Leben zu bewältigen und sich die Welt zu erklären, bedarf es Verstand, Erfahrung – und den Mythos. Er füllt die Orientierungslücken auf. Aber genau so wie Wissen, verlangt er unentwegt Anstrengung, weil Realität und mögliche Wahrheiten sich immer an Mythen reiben. Propaganda benötigt aber nicht nur die Menschen, als Geschichtenerzähler und Transporteure, sondern auch Kollektive wie Vereine, Parteien, Institutionen, Glaubensgemeinschaften, Staaten. Propaganda benötigt Organisation auf allen Ebenen. Im Kalten Krieg gab es zahlreiche halbinstitutionelle und staatliche Organisationen, die für West und Ost nicht nur Reklame machten, sondern sich am Widerspruch zwischen Realität und Mythen abarbeiteten. Sie nutzten damals die neuen Massenkommunikationsmittel wie Radio und Fernsehen, inzwischen sind das Internet und die Digitalisierung hinzugekommen. Diese neuen Techniken ermöglichen neue Lügen, Desinformation, Zensur und Propaganda. (Wahr ist auch, dass kein Medium dauerhaft gegen die Interessen und das Weltbild der Eigentümer agieren kann. Die Auswahl der Redaktionen sorgt schon für einen Grundkonsens.)
Medienpluralismus muss also immer wieder erkämpft werden, nur die technischen Möglichkeiten garantieren ihn nicht. Die Mächtigen und die Besitzer, die Reichen entscheiden über die Propaganda; die Bürger, die User können über die Freiheit, die Vielfalt der Meinungen, über die Wahrheitsfindung und Informationsmöglichkeiten entscheiden. Hierzulande wenigstens. Oder aber wie im Fall IS über ein Dauerfeuer an Propaganda und Lügen. Allein bei Twitter gibt es 40 000 Accounts mit entsprechender Ausrichtung der Selbstdarstellung pro IS.
Das Internet, das Netz hebt keinesfalls die Unterschiede zwischen Arm und Reich auf, im Gegenteil. Nach wie vor bezahlen die Armen mit ihrem Leben, mit ihrer Zeit, mit ihren Daten. Sie geben ihre Daten her, die werden nicht nur zur Tauschwährung im realen Sinn (mit diesen Daten wird Geld, Kapital, verdient, damit wird gewirtschaftet und spekuliert), sondern diese Daten verwandeln sich auch in ein Herrschaftsinstrument. Bargeld ist anonym, unsere Daten aber, kristallisiert zu Kilobytes, sind Abbild unsers Lebens. Google und Facebook können nur funktionieren, wenn es den Unternehmen gelingt, unsere Existenz in seine Verfügungsgewalt zu bringen. Dann eröffnet sich eine neue ökonomische Dimension der Kapitalanhäufung, aber nicht bei den Lieferanten der Daten. Jeder Anbieter digitaler Dienstleistungen – gleich, in welchem Bereich – weiß, dass er seine Apps besser innerhalb als außerhalb von Facebook arbeiten lässt. Es sind immer die „Armen“, die die Kosten decken müssen mit ihrem sozialen Leben und ihren Daten.
Über Plattformen wie Instagram suchen sich Unternehmen neue Kunden und Leute gehen auf Warenentdeckungsreise. Die Nutzer teilen ihre Fotos: Ausschnitte des Lebens im quadratischen Format. Mehr als 200 Millionen Menschen nutzen die Plattform bereits, 30 Milliarden Fotos wurden schon geteilt, 70 Millionen Fotos kommen jeden Tag dazu. Bei Instagram wird das eigene Leben zur Galerie. Eine Art Schaufensterbummel durchs Sein. Jeder beeinflusst und wird beeinflusst.
 Studien belegen, dass Deutschland beim Einsatz digitaler Medien im Unterricht Schlusslicht ist, also ausgerechnet da, wo die Digitalisierung tatsächlich zur Teilhabe und zum Begreifen dieser modernen Welt beitragen würde. Je mehr junge Menschen befähigt sind, sich souverän im Internet zu bewegen und lernen, was Digitalisierung für Auswirkungen auf unsere Gesellschaft hat. Digitale Medien können unterschiedlich benutzt werden, können Zugang zu Wissen ermöglichen oder die Realität komplett verstellen und verfälschen. Konsum oder Kreativität. Digitale Ausbildung kann also viel mehr sein als der Einsatz digitaler Medien. Wilhelm von Humboldt versteht Bildung als einen Prozess der „Anregung aller Kräfte des Menschen, damit diese sich über die Aneignung der Welt entfalten und zu einer sich selbst bestimmenden Individualität und Persönlichkeit führen“. Die digitalisierte Welt kann! Menschen zu sozialer Interaktion und Vernetzung über nationale und hierarchische Grenzen hinweg helfen. Kann. In vielen Staaten steht das Internet unter Zensur. Das Kapital sieht ausschließlich den wirtschaftlichen Mehrwert. In den Schulen bei uns sollten Kinder und Jugendliche ermächtigt werden, die Logik von Algorithmen zu begreifen und selbst zu gestalten. Sie sollten in der Lage sein, digitale Medien, Netze und Strukturen selbst zu gestalten. Davon sind wir weit entfernt. Nicht einmal die Medienpädagogen an den Universitäten sind entsprechend ausgebildet und die Seminare nicht ausgestattet.

Es gibt es die Idee und den Ansatz, dass revolutionäre Netze durch kollektive Bewegungen entstehen könnten.
Die Nutzung des Netzes speist sich aus mehreren Motivationen:
 die erste Motivation war der Wunsch nach Information
 die zweite entstand aus der Möglichkeit, Spuren zu hinterlassen
 und schließlich merkten die Nutzer, dass sie dadurch einen Machtgewinn erhalten – könnten.
Die Folge könnte sein: Sie schließen sich zusammen zu Bewegungen, um Einfluss zu nehmen, auch um Gesellschaft zu gestalten. Durch diese Entwicklungen haben wir nicht nur einen stärkeren Kunden, der das Angebot mitbestimmt, sondern auch einen stärkeren Bürger. Politisch heißt das, dass mehr Macht vom Bürger ausgehen könnte. Das bedeutete: zivilgesellschaftliche politische Prozesse sind nicht nur verstärkt möglich, sie passieren, und zwar ganz von selbst, überall da, wo Diskurse entstehen, und zwar nicht vorhersehbar, denn wir haben es mit nicht- linearen Systemen zu tun. Voraussetzung für die Entstehung solcher zivilgesellschaftlicher Prozesse ist allerdings das Sichtbarmachen von Themen, das Anregen von Diskursen.
Gleichzeitig finden über die Prozesse der kollektiven Thematisierung auch kollektive Wissensbildungsprozesse statt. Das heißt: Über Plattformen wie Wikipedia der Wikimedia Foundation, in denen Wissen kollaborativ generiert wird, geben wir den Anspruch auf exklusives Wissen auf. Das bedeutet nicht nur, dass niemand mehr mit Fug und Recht behaupten kann, über das richtige Wissen zu verfügen, sondern auch, dass z. B. wissenschaftliches Wissen nicht mehr Bildungseliten vorbehalten bleibt. Jeder hat freien Zugang zu umfangreichen Wissensinhalten, die von einer „Community“ erstellt, editiert, kritisiert und möglichst noch in eine Sprache übersetzt wurde, die jedem verständlich ist. Das ist eine Idee. Gleichzeitig gibt es Länder, die ihr Internet zensieren, abschalten, bereinigen, steuern, verbieten.
Die Surrealisten haben den Digitalkünstlern schon in der ersten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts gezeigt, wie man irreale Welten ohne Computer schaffen kann. Zum Beispiel Dalís zerfließende Uhren. Seit der letzten Jahrtausendwende erleben wir gleichzeitig modernste Technik, von der wir nur ahnen, was sie alles verändern wird, auch das Rechtssystem, die Umgangsformen sowieso, und – gleichzeitig – archaische, chaotische, barbarische Kriege der Menschen gegeneinander. Wir werden die Zivilisation verlieren, die Religionsfreiheit, die Menschenwürde, wenn wir nicht lernen, die Welt in ihrer Vielfalt, real – digital, verfälscht, wahr, wieder auseinanderzuhalten. Poesie rechnet sich anders als digitalisierte Kultur und ihre Chancen.
Im Januar 1816 schrieb Annette von Droste-Hülshoff das lange Gedicht „Unruhe“. Da steht am Schluss:

„Fesseln will man uns am eignen Herde!
Unsre Sehnsucht nennt man Wahn und Traum
Und das Herz, dies kleine Klümpchen Erde
Hat doch für die ganze Schöpfung Raum!“
Eben diesen Raum sollten wir schaffen: poetisch, ökonomisch. Jenseits vom Marktpreis.

 © J. Monika Walther

Jedes Original ist eine Fälschung der Erfindung

Oder: Jede Erfindung ist ein authentischer Fake des Originals?
Und jeder Fake wird zum Original. Inzwischen kann uns schwindelig werden, wenn wir über die Wahrheit nachdenken oder versuchen herauszufinden, was wahr sein könnte. Viele Journalisten beschäftigen sich damit Fakten zu checken, angebliche Fakten, wie der Mann auf Notre Dame: eine steinerne Statue. Lachende Attentäter: zwei Männer in der Menge, die miteinander sprechen. Wer was angeblich gesagt und gefordert hat. Viele Fotos werden benutzt für Hassbotschaften, obwohl die Realität und die Zusammenhänge andere zu anderen Zeiten waren. Wir haben es also schwer, uns eine Meinung zu bilden und sie auch zu begründen, sie auf einem wahren Fundament aufzubauen.

Die Definition von Authentizität, die ja etwas mit Wahrheit zu tun hat (das war einmal die Idee),beschreibt eine kritische Qualität von Wahrnehmungsinhalten (Gegenständen oder Menschen, Ereignissen oder menschliches Handeln), die den Gegensatz von Schein und Sein als Möglichkeit zu Täuschung und Fälschung voraussetzt. Als authentisch gilt ein Inhalt, wenn beide Aspekte der Wahrnehmung, unmittelbarer Schein und eigentliches Sein, in Übereinstimmung befunden werden. Die Scheidung des Authentischen vom vermeintlich Echten oder Gefälschten gilt als spezifisch menschliche Form der Welt- und Selbsterkenntnis. Zur Bewährung von Authentizität sind viele Kulturtechniken entwickelt worden, die die Kriterien von Authentizität für einen bestimmten Gegenstandsbereich normativ zu (re-)konstruieren versuchen. Diese Definition ist rührend, wahrhaftig und doch auch Geschichte. Denn was wir heute wahrnehmen, kann immer auch eine Fälschung sein. Um sie zu entlarven (ein gefälschtes Plakat, das den Grünen untergeschoben wurde, falsche Zahlen, gefälschte Buchhaltungen und Bankdaten, falsche Zitate usw.) braucht es inzwischen ein ganzes Pool an Journalisten und wahrhaft tapfere Menschen, die sich durch Daten wühlen, sei es in Sachen CumEx oder den Betrugskarussellen mit der Umsatzsteuer quer durch die halbe Welt. Jährlich beläuft sich allein in Europa der Schaden für Vorsteuerbetrug auf 50 Milliarden Euro. Diese Rechnung begleichen die Steuerzahler. Fiktive Rechnungen von Strohfirmen werden hin und her geschoben oder Waren einmal durch halb Europa ein- und ausgeführt. Immer dieselbe Butter.

Wie aber ist in der Kunst, in einem Roman die Authentizität herzustellen? Sicher nicht durch ein Anliegen, durch eine moralische Wahrheit, Pädagogik und Hinweise auf die wahre und einzige Wahrheit, denn alles Erfundene kann authentischer sein, weil es entscheidend ist, wessen sich LeserInnen erinnern, was sie in ihrem Kopf zusammensetzen. Welches Kopfkino abläuft. Welche Stereotypen oder auch Vorurteile benutzt werden. Auf beiden Seiten.
So ist auch der angeblich wahre und sehr gut recherchierte Kriminalroman eine Erfindung. Und diese Erfindung muss sich einlassen auf das Handwerk des Schreibens, der Recherche, der sorgfältigen Figurenentwicklung und wenn all das in Sorgfalt erledigt ist, muss die Erfindung der Geschichte die Wirklichkeit übertreffen und eine neue Realität erzählen. Eine Lebensmöglichkeit zwischen Sein und Schein anbieten. (JMW)

Die Kirchenbuchhalterin Elfriede Kerstein

Die meisten Leute denken, Buchhaltung wäre eine schwierige Geheimwissenschaft oder diese endlosen Zahlenreihen und Kontenführungen wären etwas für fantasielose Bürokraten. Aber beides stimmt nicht. Die Buchführung im Kleinen wie im ganz Großen ist nicht nur ein spannendes Puzzle in der Abbildung der Realität, der gesellschaftlichen Entwicklungen, sondern auch ein bunter Jahrmarkt für die Schaffung von neuen Wirklichkeiten. Wichtig ist bei der Buchführung ja nicht die Wahrheit, sondern dass alle Vorgänge erfasst und zugeordnet werden.
Das amerikanische Journal ist die einfachste Form der doppelten Buchführung. Als Erstes ist zu begreifen, dass nicht das Haben, also das erhaltene Geld, die Bezahlung, positiv ist, sondern die Forderungen an andere, das Soll wird ein Haben, das Haben ein Soll. Wenn also Verbindlichkeiten und Forderungen gebucht sind, erfolgt die sachliche Aufteilung im Hauptbuch auf die Sachkonten, auch da wird wieder zweimal gebucht. Die Summe eventuell aufgeteilt, zum Beispiel aus dem Wareneinkauf die Mehrwertsteuer herausgerechnet, die das Finanzamt erstatten soll. Und schon sind wir bei der ersten Möglichkeit im Kleinen wie im Großen zu betrügen, mit Verbindlichkeiten zu jonglieren. Cum Ex ist dann die ganz große Masche. Als Freischaffende oder kleiner Gewerbetreibender werden eben die Tankbelege der ganzen Familie eingesammelt, jedes Regal ist für den Betrieb oder das Arbeitszimmer nötig. Da gibt es eine Grauzone. Betriebe bezahlen für diese Gestaltung der Buchführung Fachleute. Schwarz wird es in der Grauzone, wenn ich einfach ein paar erfundene Rechnungen buche, um die Mehrwertsteuer zu erhalten. Früher, bevor es Computer gab, wurden die amerikanischen Journale per Hand geführt. In feiner Schrift. Das ist noch gar nicht so lange her. Ich habe das insgesamt dreißig Jahre „nebenbei“ bis zur Bilanz für einen Verlag gemacht.
Anfang der 50er Jahre wurde in meiner Familie das im Faschismus Verschwiegene lauter; und die Unruhe begann. Auch für das Kind. Für mich. Statt einem Zuhause gab es die halbe Welt zu durchqueren. Eine heimatlose Kinderzeit. Viele Orte, andere Sprachen, Dialekte. Ich fiel aus mir heraus. Ich war tüchtig und manchmal glücklich in der Fremde. Die alten Gassen in Amsterdam. An der Hand von Onkel Jaap. Unglücklich, weil ich selten wusste, wer diese Leute waren. Glücklich in Boulogne-sur-Mer. Glücklich mit meiner Cousine Barbara am Lake District, unsicher in Liverpool und London. Immer erstarrt, wenn einer dieser fremden Verwandten sagte: Mit dir spreche ich kein Deutsch. Ich spreche mit niemandem mehr Deutsch. Froh beim Bergsteigen in der Schweiz. Allein in den Wohnungen und in Habtachtstellung bei allen Umzügen. Glücklich bei Tante Hanna im Schwarzwald, glücklich und beruhigt. Sie war eine Buchhalterin. Aus Berlin, aber nach verschiedenen Fluchten in Gernsbach gelandet.
Auf der Zugfahrt, entlang der Murg, stand ich am offenen Fenster und konnte nicht genug Wind um den Kopf spüren, nicht genug sehen. Die Kiefern, die Fichten. Die Böschungen. Die dunklen Hänge. Aussteigen in Gernsbach und Tante Hanna in die Arme fallen. Wärme und Essen. Sie hatte sich eine Woche freigenommen. Sie hatte die großen amerikanischen Journale aus dem Holzbetrieb in Gaggenau, in dem sie als Buchhalterin arbeitete, nach Hause gebracht und wir rechneten Spalte für Spalte. Bald konnte sie sich auf meine Zahlen verlassen. Den Fehler im Monatsabschluss fand ich heraus. Zwei Pfennige. Später lernte ich, wie solche Beträge zu finden sind. Nie ist die Summe zu suchen, die angeblich fehlt. Nein, entweder muss sie immer weiter durch zwei geteilt werden oder mit zwei multipliziert. Wo zwei Pfennige oder Cents gesucht werden in der Bilanz, können sechzehntausenddreihundertvierundachtzig Mark oder Euro der Auslöser gewesen sein. Wo viele Hunderte fehlen, finden sich vier Euro.
Der Wistleblower Howard Wilkinson, der in seinem Büro in Tallinn 2013 eine erste Mail an seinen Arbeitgeber, der Danske Bank, schrieb, hatte nichts anderes getan, als Zahlenreihen betrachtet und sich gefragt, was hinter zweihundert Milliarden Umsatz an Geschäften steckte. Wie waren sie generiert worden? Was Howard Wilkinson damals noch nicht wusste, dass er dem größten Geldwäscheskandal auf die Spur gekommen war. Neben dem normalen Wirtschaftssystem existiert bis heute und immer weiter eine perfekt organisierte kriminelle Untergrundökonomie. Verbunden sind beide Systeme durch Notare, Banken, Rechtsanwälte, Steueraterfirmen, unzählige Briefkastenfirmen, Billionen an Geld und Waren, die kreuz und quer durch die Länder geschleust werden.
Ich fuhr als Kind gerne nach Gaggenau zu meiner Tante, spitzte die Bleistifte, füllte den Lohn der Arbeiter in die Tüten, klebte die Lohnstreifen darauf und war stolz darauf, wie meine Tante mir das Sägewerk, die Arbeit erklärte. Sie kannte alle Löhne und Kosten, wusste den Wert und den Preis der gefällten Bäume. Beschaffung und Verkaufspreis. Sie erzählte auch, dass es immer schwieriger wurde, die vielen Arbeiter im Wald und im Sägewerk zu bezahlen, weil immer weniger Geld mit dem Holz erwirtschaftet werden konnte. Sie schlug der Besitzerfamilie vor, das Holz noch weiter zu verarbeiten, nicht nur rohe Bretter zu liefern. Wenn ich mit meiner Tante Hanna im Sägewerk stand oder im Büro saß, gab es immer zwei Wirklichkeiten: die der Zahlen, die eine andere Geschichte erzählten als die Arbeit der Holzfäller und Männer im Sägewerk, der Fahrer, die das Holz auslieferten.
Die Katholische Kirche ist auch im Münsterland ein mächtiger Wirtschaftsbetrieb. Mit viel Landbesitz, Firmen und Einrichtungen aller Art. In manchen Gegenden gehört das meiste Land bis heute entweder dem Herzog von Croy oder der Kirche. Die Bauern arbeiten auf Pachtland. Und so betreibt auch der Bischof in Münster eine Buchhaltung, früher auf Papier. Amerikanische Journale. Also braucht es nicht nur Leute, die Bücher über die Liegenschaften führen, sondern auch eine Buchführung. Kosten Einnahmen. Soll und Haben. Forderungen und Verbindlichkeiten. Vorsteuer und Mehrwertsteuer. Möglichst wenig Steuer und viele Kosten. Im Roman ist Elfriede Kerstein eine Buchhalterin, die bis zuletzt die Journale und das Papier der digitalen Buchführung vorzieht. Sie hat ihr ganzes Leben lang als stellvertretende Leiterin in der Abteilung Finanzen und Vermögen alle Geschäfte im Bistum gebucht, kontrolliert und begriffen, was sich hinter den Zahlen verbarg. Wo Schmiergelder als Kosten auftauchten, wo Land weit über oder unter dem Preis abgegeben wurde. Sie führte nicht nur die offizielle doppelte Buchführung, sie belegte eine Kopie dieser Buchungen mit Dokumenten. Ihre Nachfolgerin entdeckt all diese Belege und Kommentare dazu. Sie begibt sich in Lebensgefahr.

(c) J. Monika Walther

Die Figuren

Show, don’t tell

Diesen Satz kennt inzwischen sicher jede Schriftstellerin und jeder Autor, auch alle, die mit dem Schreiben starten und ein Thema oder ihr Genre gefunden haben. Viel leichter ist es ja zu schreiben: Sie war eine wunderschöne Frau, aber passiert da bei den Lesern etwas, bestenfalls werden in ihnen die Bilder wachgerufen, wann sie jemanden als schön empfanden. Aber wir wollen ja, dass unsere Figuren, die wir erfinden, sichtbar und lebendig werden.
Ja, ich mag Männer mit schwarzen Haaren, einem Bart, also versuche ich meinen Kriminalkommissar Jacob Witowski so zu schreiben, ohne nun beim ersten Auftauchen einen kompletten Steckbrief an die Leser zu verteilen. Ich muss über ihn ein Dossier anlegen, überlegen, was er mag, was er wie tut, wie er denkt. Er denkt ganz anders als die Psychologin Dore Vermeulen. Ich muss auch herausfinden, was die beiden dann verbindet, trägt. Welche Konflikte haben sie? Wo starten sie und wo wollen sie hin?

Es gibt eine einfache Liste, mit der man beginnen kann, um den eigenen Figuren auf die Spur zukommen und auch einzuschätzen, ob sie denn überhaupt in der Lage sind, das zu tun, was sie tun sollen, ob sie zur Handlung passen:

Um wen geht es?

Alter, Geschlecht, Beruf, Temperament, soziales Umfeld
Wie mutig, wie ängstlich ist meine Figur?
Wie entschlossen ist sie?
Was hat diesen Menschen geprägt?
Wovor hat dieser Mensch Angst?
Ist er groß, klein, schön, hässlich?
Was oder wen liebt diese Figur am meisten?
Welche Ziele gibt es? Welche Vergangenheit?
Lügt dieser Mensch? Ist er ehrlich? (Ethik)
Religion?
Ist dieser Mensch faul, tüchtig, pflichtbewusst?
Ehrgeizig oder locker?
Gibt es Ideale, Ideen, die antreiben oder hindern?
Verhältnis zwischen Intuition, Ratio, Fühlen?
Welche Probleme, Verdrängungen, Wünsche  gibt es?
Welche Blockaden gibt es?

Um was geht es?

Wer will was? Und warum?

Warum gibt es eine „Bewegung“, eine Aktion, einen inneren und/oder äußeren Aufbruch?
Welche Geschichte soll erzählt werden?  Und warum? Mit welchen Mitteln?
Welche Konflikte existieren und zwischen wem?
Innere und äußere Situation, Auslöser, Anlässe?
Geheimnisse